„Normalität ist keine Option.“ Hannovers Bewerbung als Europäische Kulturhauptstadt 2025

von Leah Niederhausen

Chemnitz wird Kulturhauptstadt Europas 2025, und Nürnberg zeigte sich damit zunächst nicht sonderlich einverstanden. Aber wer waren eigentlich die drei anderen deutschen Bewerberstädte? Welche Ideen hatten Hannover, Hildesheim und Magdeburg?

Bei der Betrachtung der einzelnen Bid Books (Konzepte) dieser Städte springt vor allem eine Bewerbung in ihrer Andersartigkeit sofort ins Auge: Hannover.

Das Cover des Kunstwerks „Bid Book“ ist eine Hommage an Kurt Schwitters und seinen Merzbau
(Public domain, via Wikimedia Commons)

Bewerbung als Kunst

Die Landeshauptstadt Niedersachsens, die ansonsten oftmals mit einer gewissen Nüchternheit in Verbindung gebracht wird, sorgte mit einem radikalen Bid Book für Aufsehen. Anstatt es den anderen Bewerberstädten gleichzutun und den sehr formellen Vorgaben der Jury zu folgen, kreiert die Stadt in ihrem Bid Book eine dystopische Zukunftsversion, aus deren Perspektive sie ihre eigenen Projektpläne kommentiert. Durch diesen kreativen Ansatz wird deutlich, dass Bid Books nicht nur Kunst beschreiben, sondern auch selbst Kunst sein können. Unter dem Titel „Normalität ist keine Option“ kritisiert Hannover europäische Unsolidarität nachdrücklich und präsentierte grenzüberschreitende Kulturprojekte als Möglichkeit, dieser Entwicklung entgegen zu wirken. Das Ganze wirkt zunächst metaphysisch, daher lohnt es sich, das Konzept etwas genauer zu betrachten, das so gar nicht in den Rahmen der Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt 2025 zu passen scheint und dies auch überhaupt nicht will.

Wohin entwickelt sich Europa?

Ausgangspunkt ist das Jahr 2058. In dieser alternativen Realität wurde Hannover in ihrer Bewerbung als Kulturhauptstadt Europas im Jahr 2020 disqualifiziert, weil sie anstatt eines Bid Books mit spezifischen Projektideen, ein politisches Manifest einreichte. Ein Manifest, das die Idee einer einzelnen Kulturhauptstadt und damit den gesamten Wettbewerb ablehnt. In Zeiten von Brexit, Corona-Pandemie und einem Aufschwung nationalistischer Bewegungen dürfe es keine singuläre Kulturhauptstadt in Europa geben, sondern eine Koalition solidarischer Städte. Um diese kollektiven Kulturvorhaben umzusetzen, forderte Hannover in der selbst geschaffenen Alternativrealität die faire Aufteilung der finanziellen Gesamtförderung für die Kulturhauptstadt Europas auf alle Bewerberstädte, reichte folgerichtig kein Bid Book ein und wurde deswegen vom Wettbewerb ausgeschlossen. Im Jahr 2058 wird nun das fast fertig gestellte und verloren geglaubte Bid Book aus dem Jahr 2020 auf einem Datenträger gefunden und veröffentlicht. Versehen ist es dabei mit zahlreichen Kommentaren einer fiktiven Autorin, die teils ironisch, teils trivial scheinen, aber vor allem das Bild einer möglichen Zukunft zeichnen, die geprägt ist von rechtsnationalen Regierungen und einem bevorstehenden Referendum darüber, ob die Europäische Union endgültig abgeschafft und lediglich als Wirtschaftsraum erhalten bleiben solle. Das Bid Book präsentiert Kultur in diversen Projektideen als Weg, um diese Zukunftsversion zu verhindern.

Städte als politische Aktivist:innen der Zukunft

Bushalltestelle Steintor Hannover

Auch wenn das Hannover der Gegenwart nicht tatsächlich vom Wettbewerb zur Kulturhauptstadt Europas ausgeschlossen wurde, so zieht sich dieses Ziel von mehr gesamteuropäischer Solidarität wie ein roter Faden durch das gesamte Bid Book. So plante Hannover unter anderem, von ihrem Gesamtetat von 80 Millionen Euro je 15 Millionen an die anderen vier Bewerberstädte abzugeben. Kultur wird in Hannovers Konzept nicht bloß als Unterhaltung gesehen, sondern als Möglichkeit des politischen Aktivismus.

Im Fokus dieses kulturellen Aktivismus‘ stand die Planung einer mobilen Agora in Anlehnung an die klassische Agora im antiken Griechenland. Anders als die altertümliche sollte die mobile Agora jedoch ein Raum des Zusammenkommens für alle Menschen bieten, also inklusiv sein, nicht exklusiv. Zu diesem Zweck war geplant, sie 2025 zu verschiedenen Orten in Hannover wandern zu lassen und dabei immer einen anderen gesellschaftlichen Diskurs künstlerisch in den Fokus zu rücken, wie Menschenrechte, Demokratie oder den Planeten Erde. Dabei wurden in der Planung europäische Themen und Probleme aktiv über lokale Angelegenheiten gestellt. Hannover verstand sich in ihrer Bewerbung zur Europäischen Kulturhauptstadt nicht als Zentrum, sondern als Raum für grenzüberschreitende Teilhabe. Kurzum: In ihrem Bid Book zeichnet Hannover Kultur als Instrument gegen Unsolidarität, Nationalismus und Diskriminierung. Aber kann Kultur das alles leisten? Und sollte sie das überhaupt?

Kultur überall

Nein, sagt Kulturwissenschaftler Prof. Dr. Armin Klein. Seit einer „Neuen Kulturpolitik“ der 1970er Jahre, die sich selbst als „Kultur für Alle“ versteht, erlebe das Kulturangebot in Deutschland eine starke quantitative Konjunktur. Und damit verbunden eine immer größere gesellschaftliche Relevanz. Während der Kulturbegriff vor den gesellschaftlichen Umbrüchen der 1960er und 70er Jahre oftmals mit Kunst gleichgesetzt wurde, werde Kultur heutzutage immer mehr Bedeutung für gesellschaftliche Diskurse zugeschrieben, so wie in dem Bid Book Hannovers. Möglichst viele kritische Denkanstöße zu kollektiven Themen und Problemen zu geben, ist sicherlich nicht schlecht. Doch wie breit kann Kultur sein, ohne an Tiefe zu verlieren? Und ist es nicht zu einfach, Kultur als alleinige Retterin unserer Gesellschaft zu sehen und dadurch dieselben unbequemen Fragen zu fehlender Partizipation und Ausgrenzung an anderer Stelle nicht zu fragen?

Die diversen Kulturprojekte, die Hannover anlässlich der Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas vorstellt, könnten also eine wie die dort gezeichnete trostlose Zukunft allein vermutlich nicht verhindern. Und das sollen sie auch gar nicht. Dennoch wird es spannend zu sehen, welche Auswirkungen die Konzepte, welche die Stadt auch ohne die finanziellen Zuschüsse einer Kulturhauptstadt in ihrem eigenen Entwicklungsplan 2030 umzusetzen gedenkt, haben werden. Denn auch wenn Hannovers Bid Book als alleiniges Konzept, um Unsolidarität, Nationalismus und Diskriminierung in dieser Gesellschaft zu bekämpfen, sicherlich zu einfach wäre, so regt es doch zum Nachdenken an. Was kann und soll Kultur leisten? Welche Bedeutung hat Kultur für Gesellschaft? Und was ist das überhaupt für eine Gesellschaft, in der wir zukünftig leben wollen?

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