Spieglein, Spieglein an der Wand … Wer wird Kulturhauptstadt in unserem Land?

von Jérôme Lenzen

Seit dem 11. Januar 2021 steht es nun offiziell fest: Die Kulturhauptstadt Europas 2025 wird Chemnitz sein. In einem Bewerberfeld mit Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg konnte sich die drittgrößte Stadt Sachsens erfolgreich durchsetzen. Dass wir die Verkündung erst jetzt in diesem Beitrag besprechen, hat auch mit dem Verfahren und der daran geäußerten Kritik zu tun. Denn erst mit dem endgültigen Beschluss der Kultusministerkonferenz von dieser Woche können die Chemnitzer:innen sich ausgelassen über ihren Erfolg freuen.

 

Karl-Marx-Monument, Chemnitz

Was war passiert? Der geneigte Beobachter des Auswahlprozesses würde es wohl folgendermaßen zusammenfassen: Die ebenfalls aussichtsreiche Bewerbung von Nürnberg konnte sich nicht durchsetzen und im Frankenland waren damit nicht alle einverstanden. Eine andere Lesart war jedoch ebenfalls vernehmbar: Das Verfahren sei nicht mit rechten Dingen abgelaufen, hochrangige Kulturmanager:innen hätten Vetternwirtschaft betrieben und die Jury habe nicht auf der Grundlage von Qualität geurteilt. Insbesondere in der Süddeutschen Zeitung wurde diese Kritik mehrfach formuliert und verbreitete sich von dort aus über die Kommentarspalten der Feuilletons. Der Entscheidungsprozess wurde öffentlich beleuchtet und die Rolle einflussreicher Kulturmanager:innen hinterfragt. Dabei geriet unglücklicherweise aus dem Blick, was eigentlich wesentlich ist: Wie gut ist das Chemnitzer Konzept und war das Nürnberger Bidbook (so die Bezeichnung für die eingereichten Unterlagen) tatsächlich so viel besser?

Beim ersten Blick in das Chemnitzer Bidbook begrüßt uns zunächst das Cover der New York Times vom 31. August 2018: „Mob Protests in Germany Show Vigor of Far Right“. Ist das wirklich schon über zwei Jahre her? Tatsächlich verbinden viele Chemnitz in erster Linie mit den Bildern eines wütenden Mobs und der anschließenden öffentlichen Diskussion über Jagdszenen. Das Bild von Hans Georg Maaßen kommt einem in den Sinn, aber auch an Campino von den Toten Hosen werden viele denken, der als einer der Protagonisten das Rockkonzert unter dem Motto #wirsindmehr ins Leben gerufen hat. Zwei Seiten einer Medaille, die von einem zweifelhaften Ruf der Stadt zeugen.

Chemnitz geht mit diesem Ballast offen um, ja mehr noch: Es stellt seine Probleme an den Anfang ihres 152-seitigen Kulturhauptstadt-Konzepts. Der Ruf dieser Stadt im Erzgebirgsvorland hat ganz zentral mit den Absichten des Kulturkonzepts zu tun, denn nicht nur außerhalb von Chemnitz haben die Ereignisse des Jahres 2018 Spuren hinterlassen. Auch viele Autochthonen schämen sich für ihre Stadt. Als Ziel der Langzeitstrategie nennt Chemnitz daher folgerichtig, dass im Jahr 2027 – also zwei Jahre nach dem Kulturhauptstadtjahr – 70% der Chemnitzer:innen ein positives Bild ihrer Stadt haben sollen und insgesamt eine „Verschiebung der Darstellung in den (sozialen) Medien hin zu positiven Nachrichtenberichten“ vollzogen sein soll. Solche Ziele mögen auf den ersten Blick vage daherkommen, doch sie stellen einen ganz wesentlichen Grund dafür dar, weshalb die Stadt Chemnitz und der Freistaat Sachsen ein Budget von ca. 30 Millionen Euro für das Programm aufstellen. Kultur als Selbstzweck wird in der Regel nicht mit Summen dieser Größenordnung gefördert. Stattdessen wird das Geld als Investition einer langfristigen Kulturentwicklung gesehen, die im Erfolgsfall auch positive Auswirkungen auf andere Bereiche ausübt. Hierzu zählt beispielsweise der Tourismus, von dem sich Chemnitz ein jährliches Wachstum in Höhe von 4% verspricht.

Doch mit welchen Projekten will Chemnitz das Jahr 2025 als Teil einer solch langfristigen Entwicklung begehen? In der medialen Diskussion um die Vergabe kam das künstlerische Programm kaum vor. Grund genug, um einen vertieften Blick auf das Bidbook zu richten. Ein Projekt fällt dabei besonders ins Auge. Unter dem Titel ‚GOA‘ (Garage der Autodidakten) plant Chemnitz die Errichtung einer Design- und Kunsthochschule in einer leerstehenden Garagensiedlung. Als Vorbild fungiert das Bauhaus, das einst ebenfalls eine neue Lehrmethode in Europa einführte. Lehrlinge und Meister:innen sollen gleichermaßen Autodidakten sein, die ihre Kenntnisse und Fähigkeiten in der unkonventionellen Umgebung einer Garage weitergeben. Die Garage repräsentiert innerhalb des Konzeptes eine „Do-it-yourself- und Macher-Tugend“ und steht gleich mehreren Projekten Pate. So werden in einem Projekt unter dem Titel ‚3KG‘ 3000 Garagen zugänglich gemacht, um einen Blick auf die Kreativität ihrer Besitzer:innen zu erlauben und mitunter sogar Mini-Festivals in den Garagen durchzuführen. Es ist nicht schwer zu erraten, welchem Thema sich schließlich das Projekt ‚MNG‘ – MANgarage widmet: Hier wird die internationale Cosplay-, Comic- und Manga-Szene nach Chemnitz eingeladen, um miteinander in Kontakt zu treten und die unterschiedlichen Ausprägungen der Kunstform in den Dialog zu bringen.

Das Chemnitzer Konzept beweist mit den Garagen-Projekten sowohl Mut, als auch Einfallsreichtum. Die Fokussierung auf das individuelle kreative Schaffen, die so bezeichnete Macher-Mentalität, definiert Kultur in einem zugänglichen und barrierefreien Sinne, der insbesondere von der Partizipation der Chemnitzer Zivilgesellschaft getragen werden soll. Kultur heißt hier: Mitmachen, Teilhaben und vor allem auch Teilgeben. Und Nürnberg? Auch dort wurden unter dem Leitmotiv Past Forward spannende und ambitionierte Projektideen geschmiedet. Im nächsten Beitrag werfen wir u.a. einen Blick auf eine kritische Retrospektive zum Werk von Leni Riefenstahl und die Idee einer Kulturhauptstadt der Kinder.

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